Limbus (Kurzgeschichte)


Es war ein kalter, regnerischer Donnerstag im Oktober, als Hanna das letzte Mal gesehen wurde.

Sie trug dunkle Jeans und eine altrosafarbene Chiffonbluse, darüber den langen schwarzen Herbstmantel, den Valerie mit ihr zusammen ausgesucht und ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie hatten eine kleine Bar am Stadtrand besucht, um auf die vergangenen und die kommenden siebenundzwanzig Jahre anzustoßen. Nach dem Verlassen der Bar hatte Valerie sie umarmt und ihr einen Abschiedskuss auf die Wange gehaucht, bevor sie beide ihrer Wege geangen waren. Hätte sie auch nur geahnt, dass es das letzte Mal sein würde, dass sie ihre Freundin umarmte, hätte sie sie länger festgehalten.

Am nächsten Morgen kam Hanna nicht zur Arbeit. „Da hat wohl jemand zu tief ins Glas geschaut“, witzelten ihre Kollegen, aber Valerie wusste es besser. Sie hatten jede nur ein Glas Sekt getrunken und sich ansonsten mit Wasser begnügt. Valerie schrieb Hanna eine kurze Nachricht, ahnte jedoch, dass sie keine Antwort erhalten würde. Es war dieses Gefühl, diese Enge in ihrer Brust, die ihr beinahe die Luft abzuschnüren schien, die ihr sagte, dass Hanna nicht einfach verschlafen hatte oder blaumachte.

Zwei weitere Nachrichten und drei Anrufe später, die stets direkt auf der Mailbox gelandet waren, fuhr Valerie in ihrer Mittagspause zu Hannas Wohnung. Ihr Wagen stand nicht wie gewöhnlich vor dem Haus geparkt und auch die Straße rauf und runter war das violette Fahrzeug nirgends zu sehen. Das Klingeln an der Wohnungstür verhallte ungehört.

Ihre Eltern wussten auch nicht, wo sie sein könnte, kamen aber wenig später mit dem Zweitschlüssel zu Hannas Wohnung. Ihr Mantel hing nicht an der Garderobe. Handtasche, Portmonee, Handy und Schlüssel waren nirgends zu finden. Das Bett war gemacht, die Wohnung sauber und aufgeräumt. Im Flur hing noch schwach der Geruch von Hannas Lieblingsparfum in der Luft. Oder vielleicht bildete sich Valerie das auch nur ein.

Freitagnachmittag meldeten sie Hanna auf der örtlichen Polizeiwache als vermisst.

Am Himmel zogen dunkle graue Wolken vorbei und ein kräftiger Wind ließ die kargen Baumkronen vor und zurück schaukeln. Kein einziger Tropfen Regen fiel vom Himmel. Valerie beantwortete dem Polizisten jede der Fragen, die er stellte, aber sie konnte ihn dabei nicht lange anschauen. Immer wieder glitt ihr Blick hinaus in den Sturm, zu den Wipfeln der Bäume, zu den dunklen Wolken, den tanzenden Blättern. Es war seltsam, dachte sie, wie ruhig es wirkte, wenn man nicht in dem tosenden Chaos stand, sondern es nur von außen betrachtete.

Den lilafarbenen Golf fand man zwei Tage später in einer Nebenstraße der Bar. Hanna war nie zu ihrem Fahrzeug zurückgekehrt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Polizist, der den Fall betreute, stets darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit bestünde, dass Hanna sich freiwillig abgesetzt hatte, dass es ihr sicherlich gut ginge, dass sie bald von ihr hören würden. Er sagte diese Dinge immer noch, doch die Überzeugung in seiner Stimme war Zweifeln gewichen.

Valerie sah ihre Freundin weiterhin in ihren Träumen. Sie saßen in der Bar, tranken Sekt und lachten. Oder lagen am Strand in der Sonne, ein bunter Schirm über ihnen aufgespannt, um Schatten zu spenden. Sie verbrachten die Mittagspause gemeinsam in der Cafeteria und plauderten über einen Film, den sie beide am Vortag zufällig im TV gesehen hatten. Nur einmal standen sie am Fluss und redeten nicht, lachten nicht. Sie schwiegen und starrten zum anderen Ufer hinüber – das hieß, Hanna starrte, Valerie beobachtete sie von der Seite, wie der Wind ihre Haare zerzauste und ihr eine Strähne ins Gesicht wehte. Dann drehte sie den Kopf und schaute sie an. Ihre Augen waren seltsam trüb.

„Warum hast du es mir nie gesagt?“, fragte sie.

„Was gesagt?“, entgegnete Valerie und wachte auf.

Wochen vergingen ohne neue Erkenntnisse. Niemand hatte Hanna gesehen, niemand hatte etwas von ihr gehört. Ihr Handy ließ sich nicht orten, man wusste lediglich, dass es zuletzt im Umfeld der Bar gewesen sein musste, als es noch angeschaltet war. Von ihrem Konto wurde kein Geld abgehoben, ihre Kreditkarte blieb unbelastet. Ihren PC auf der Arbeit und den Laptop aus ihrer Wohnung hatte die Polizei mitgenommen, doch nichts gefunden, was ihnen einen Hinweis auf Hannas Verbleib hätte liefern können. Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.

Jeden Tag erwartete Valerie, das Hanna morgens ins Büro spazierte als wäre nichts gewesen, ihren Mantel über die Rückenlehne warf und sich lachend in den Stuhl fallen ließ, während sie Valerie von diesem völlig verrückten Abenteuer erzählte, das sie in den letzten Wochen erlebt hatte. Wie sie endlich ihre Tasche gepackt und diese Afrikareise gemacht hatte, von der sie ihr stets vorgeschwärmt hatte und wie großartig es gewesen sei. Wenn sie nach Hause kam, erwartete sie manchmal eine Postkarte aus Namibia oder Kenia oder Südafrika in ihrem Briefkasten zu finden und wenn ihr Handy laut piepend auf eine neue Nachricht aufmerksam machte, erwartete sie einen lachenden Smiley und eine Nachricht, dass es ihr gut ginge und sie bald zurück sei. Nichts davon geschah.

Nach drei Monaten hatte die Polizei aufgegeben. Natürlich sagten sie das nicht. Sie behaupteten, weiter jeder Spur nachzugehen, doch Valerie wusste genau, was das bedeutete. Die Medien hatten das Interesse an dem Fall längst verloren. Im Büro erschien an einem Montagmorgen ein fremdes Gesicht und belegte den verlassenen Platz. Valerie schäumte vor Wut, stürmte in die Chefetage, warf mit harschen Worten und schließlich einem Tacker vom Schreibtisch ihres Vorgesetzten um sich und wurde nach Hause geschickt.

Manchmal lief sie gedankenversunken durch die Innenstadt, auf dem Weg zu einem Termin oder dem Café, in dem sie sich mit Arbeitskollegen traf, die darauf bestanden, dass sie hin und wieder mal ihre Wohnung verlassen müsse. Dann sah sie aus dem Augenwinkel Hannas schwarzen Zopf hin und her wippen, oder ihren Mantel, der vom Wind aufgeplustert wurde, während sie an ihr vorbeihuschte. Sie blieb abrupt stehen, als wäre sie vor eine unsichtbare Wand gelaufen, fuhr herum, starrte suchend in die Menge. Manchmal waren es nur Frauen, die Hanna ähnlich sahen. Meistens war es in Gänze ihre Fantasie, die ihr absurde Streiche zu spielen schien.

An einem Freitagabend, nach einem langen und anstrengenden Tag, kam Valerie nach Hause, schloss ihre Wohnungstür auf und wurde von dem dezenten Duft von Hannas Parfum begrüßt. Sie durchquerte in wenigen Schritten den Flur, riss die Tür zum Wohnzimmer auf und sah ihre Freundin am Fenster stehen und in den Regen hinausstarren.

„Hanna“, begann sie, doch mit einem Wimpernschlag war sie verschwunden. Das Wohnzimmer war leer, der Parfumgeruch verflogen. Valerie blinzelte den plötzlich tränennassen Schleier von ihren Augen und sank schluchzend zu Boden.

Im April lösten Hannas Eltern ihre Wohnung auf. Valerie stand im Wohnzimmer und betrachtete die Fotos an der Wand. Fotos von ihrer Familie, ihren Freunden, Fotos von Urlaubsreisen. Ein Foto von Hanna und Valerie auf einer Party, mit Bloody Marys in den Händen. Hanna hatte sich weit zu ihr hinübergelehnt und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange, der den Rand ihrer Lippen gestreift hatte. Valerie erinnerte sich an diesen Moment, spürte die sanften, warmen Lippen ihrer Freundin auf ihrer Haut, als sie die Augen schloss.

„Warum hast du es mir nie gesagt?“, fragte Hanna in dieser Nacht erneut.

Valerie schluckte schwer. „Ich weiß nicht“, sagte sie und wachte auf.

Sie begann, Hanna Nachrichten zu schreiben. Wo bist du?, tippte sie und schickte die Nachricht ab. Sie reihte sich ein in die Nachrichten, die Valerie am Tag von Hannas Verschwinden geschrieben hatte und die bis heute ebenso ungelesen geblieben waren.

Bitte, Hanna, melde dich. Niemand ist sauer auf dich. Wir wollen nur, dass du nach Hause kommst.

Es war einfacher zu glauben, dass Hanna aus freien Stücken gegangen war. Es war einfacher zu glauben, dass sie gerade auf Safari in Afrika war. Es war einfacher zu glauben, dass sie zurückkommen würde.

Ich vermisse dich, tippte sie und starrte auf den einsamen kleinen grauen Haken neben der Nachricht.

Im Juni wurde Valerie achtundzwanzig. Sie feierte ihren Geburtstag nicht. Ihre Schwester schrieb ihr eine kurze Nachricht aus zweihundertundfünfzig Kilometern Entfernung, wünschte ihr alles Liebe und bat sie eindringlich, sich doch mal bei ihren Eltern zu melden, sie würden sich schreckliche Sorgen machen. Ein paar ihrer ehemaligen Arbeitskolleginnen und -kollegen gratulierten ihr per Textnachricht, doch über das generische „Alles Gute“ ging keine dieser Nachrichten hinaus. Sie verstanden nicht, wieso Valerie nicht nach vorne blicken konnte, und Valerie verstand nicht, wieso niemand außer ihr zurückblickte.

Sie träumte noch immer von Hanna und jedes Mal war es so lebendig und farbenfroh, dass Valerie beim Aufwachen glaubte, dass sie vielleicht Traum und Wirklichkeit verwechselt hatte, dass sie in dieser fröhlichen und unbeschwerten Welt lebte, und wenn sie nachts zu Bett ging, den immer gleichen Albtraum hatte. Es erschien ihr so viel mehr Sinn zu ergeben, denn die Welt ohne Hanna war grau und trist und seltsam leer.

„Warum hast du es mir nie gesagt?“

Ich hatte Angst, wollte sie sagen. Ich wollte unsere Freundschaft nicht kaputt machen, wollte sie ihr erklären. Es tut mir leid, wollte sie ihrer Freundin mitteilen.

„Ich wünschte, ich hätte es gesagt“, sagte sie und wachte auf. Es war ein regnerischer Freitagmorgen im Oktober. Es war der letzte Tag, an dem Valerie von Hanna träumte.