Der Schnee unter ihren Füßen knirschte mit jedem Schritt, den sie in die vom Mond schwach erleuchtete Nacht tätigte. Es war das einzige Geräusch, das die fortwährende Stille durchschnitt. Sie fröstelte und zog ihren Mantel mit der freien Hand weiter zu. In der anderen hielt sie die kleine Laterne, die sie vom Fensterbrett der Küche genommen hatte, als sie sich aus dem Haus geschlichen hatte. Jedes Knarzen der Dielen oder Türen hatte sie erschrocken innehalten lassen. Doch ihre Eltern und Brüder waren nicht aufgewacht, nicht einmal, als sie versehentlich eine der großen metallenen Milchkannen neben der Haustür umgeworfen hatte.
Ihr Herz klopfte in einem unaufhörlich schneller werdenden Takt, während ihre Schritte sich ebenfalls beschleunigten. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, um die Wegkreuzung am Waldrand zu erreichen, von der ihre Freundinnen ihr erzählt hatten.
„Ich schwöre, ich habe ihn dort an mir vorbeigehen sehen!“, hallten die Worte von Maëlle in ihrem Kopf wider. „Für einen Moment konnte ich ganz klar sein Gesicht sehen.“
„Wer war er?“
„Ich kannte ihn nicht, noch nicht. Aber er hatte wunderschöne blonde Locken und dunkle Augen, ich werde sein Gesicht ganz sicher nicht vergessen. Ich sage euch, eines Tages werde ich ihn an einem warmen Sommermorgen treffen und wir werden uns ansehen und wissen, dass wir füreinander bestimmt sind. Ich bin froh, dass ich jetzt weiß, nach wem ich Ausschau halten muss.“
Ihr warmer Atem verwandelte sich vor ihrem Gesicht in nebelige Schwaden und zog gen Himmel hinauf, während Katarin in einen leichten Laufschritt verfiel. Die Dezemberluft brannte wie kaltes Feuer in ihren Lungen, ihr Blick war angestrengt auf den Boden einige Meter vor ihr gerichtet, damit sie nicht über eine Wurzel stolperte und stürzte, aber auch damit die unheimlichen Schatten der umliegenden Dunkelheit ihr Unterfangen nicht noch zunichtemachen und sie zum Umkehren zwingen konnten.
Sie brauchte Gewissheit. Die Unwissenheit, die vage Hoffnung, all das trieb sie zur Verzweiflung. Sie konnte nicht mehr essen, nicht mehr schlafen, manchmal fühlte es sich an als könne sie nicht mehr atmen, ohne an ihn zu denken, und nicht atmen, wenn sie an ihn dachte. Sie musste wissen, ob er ebenso fühlte. Oder so fühlen würde. Sie musste wissen, ob er der Mann war, der eines Tages um ihre Hand anhalten würde. Wenn nicht, dann konnte sie sich vielleicht endlich von ihm lösen, musste seinen Blick nicht mehr suchen und nicht mehr hoffen, dass er erwidert wurde. Dann würden ihre Hände nicht mehr schwitzig werden und ihr Herz nicht mehr lauter pochen, wann immer er in der Nähe war.
Endlich hatte sie die Kreuzung erreicht und blieb in ihrer Mitte stehen. Sie rang ein wenig nach Luft, aber sie hatte es geschafft. Aus der Ferne begann das Läuten der Kirchturmuhr zu ertönen und sie hielt unweigerlich den Atem an. Sie versuchte in die Nacht zu lauschen, während sie das Pochen ihres eigenen Herzens spürte, doch nichts geschah. Ihr Blick suchte in der Finsternis hinter dem Schein ihrer Laterne nach Bewegungen. Als das Glockengeläut verstummt war, war sie noch immer alleine und außer ihrem nun stoßweise gehenden Atem nichts zu hören.
Hatte Maëlle sie belogen? Oder war es ihr nicht vergönnt zu wissen, was sie in ihrer Zukunft erwartete? Was, wenn kein Mann jemals um ihre Hand werben würde? War ihre Einsamkeit an dieser Kreuzung in der Mitte der Nacht ein Zeichen, dass ihre Zukunft ebenso einsam bleiben würde? War es ihr nicht vergönnt, von einem Mann geliebt zu werden? War es ihr nicht vergönnt, von Per geliebt zu werden?
Eine eisige Kälte begann langsam ihre Glieder empor zu kriechen, während sie noch immer auf der Stelle verharrte. Heiße Tränen rollten über ihre starren Wangen. Er liebte sie nicht. Er würde sie niemals lieben. Er würde nicht um ihre Hand anhalten. Niemand würde um ihre Hand anhalten.
Eine Bewegung zu ihrer Linken ließ sie aufschrecken. Eine Gestalt in einem dunklen Mantel streifte an ihr vorbei, so nah, dass sie die Wärme des anderen Körpers für einen Moment spüren konnte. Sie hatte ihn nicht kommen sehen oder hören und als sie sich zu ihm herumdrehte, war er bereits an ihr vorbeigeschritten.
„Auf keinen Fall darfst du ihm nachsehen“, hatte Maëlle sie ermahnt, „und denk nicht einmal daran, ihn anzusprechen. Es wäre dein Ende!“
Doch wer war dieser Fremde? Sie hatte sein Gesicht nicht erkennen können, er war zu schnell und zu unerwartet an ihr vorbeigezogen. Sie musste doch wenigstens wissen, wie er aussah. Ihr Blick bohrte sich in seinen Rücken. „Per?“, rief Katarin aus und plötzlich blieb er stehen. Die warnende Stimme ihrer Freundin versuchte vergebens zu ihr durchzudringen. „Per?“, wiederholte sie zögerlich. „Bist du es?“
Die Gestalt in dem dunklen Mantel streifte die Kapuze ab. Langes Haar kam darunter zum Vorschein und im flackernden Licht der Laterne glänzte eine dunkle und zähflüssige Masse auf dem dicken Haarschopf. Dann drehte sich die Gestalt zu ihr um. Es war nicht Per. Stattdessen entdeckte sie ihr eigenes, bleiches Gesicht mit blauen Lippen und einem kalten, leeren Blick. Katarin erschrak und stolperte zurück. Die Laterne entglitt ihrem Griff und erlosch, als sie auf dem Boden aufschlug und die Kerze zwischen zerbrochenem Glas im Schnee versank. Auf dem glatten Untergrund verlor Katarin den Halt. Sie stürzte und ihr Hinterkopf schlug hart auf dem Boden auf.
Dann war alles still. Der Mond am Himmel warf sein fahles Licht auf sie hinab und sie sah zu ihm hinauf, bis sie ihre Augen nicht mehr offenhalten konnte und die Dunkelheit sie empfing.