Als ich ein Kind war, hatte ich nicht den blassesten Schimmer, dass es da draußen ganze Welten digitaler Spielwiesen zu entdecken gab. Mein Horizont war begrenzt auf die Spiele, die mein drei Jahre älterer Bruder spielte. Ich kannte nichts anderes und wusste auch nicht, dass es mehr gab, überhaupt mehr geben konnte als das.
Ich spielte „Command & Conquer: Alarmstufe Rot“, weil er es spielte und „Alone in the Dark“ und „Resident Evil“, weil er es spielte (oder sagen wir, ich versuchte es, gruselte mich aber eigentlich viel zu sehr, um über das Intro hinauszukommen).
Mein Bruder war bei vielen dieser Spiele mein Kompass, denn ich wagte mich oftmals nur so weit vor, wie ich es bei ihm zuvor gesehen hatte (was natürlich vor allem für Spiele galt, die ich in irgendeiner Weise als gruselig empfand – und davon gab es eine Menge).
Es verwundert deshalb vermutlich nicht, dass ich irgendwann entdeckte, dass ich ihm eigentlich doch lieber dabei zusah, wie er spielte. Nur in der Rolle der passiven Beobachterin gefiel ich mir noch nie, weshalb ich zur helfenden rechten Hand wurde, die (mehr oder weniger) hilfreiche Kommentare gab.
Heute kennen wir dieses Phänomen als Backseatgaming, damals war ich die neunmalkluge kleine Schwester, die ihrem Bruder zu erklären versuchte, was er wie zu tun hatte. Aus irgendeinem Grund ließ er das sogar mit sich machen (vielleicht war ich doch hilfreicher als nervig, aber vermutlich eher nicht).
Am Anfang war die Zettelwirtschaft
Ich weiß noch, wie wir in seinem Zimmer auf der Bettkante hockten, gegenüber der kleine Röhrenfernseher, der gemeinsam mit „The Legend of Zelda – Ocarina of Time“ für das N64 unser Weihnachtsgeschenk gewesen war. Den feuerroten Controller in den Händen steuerte mein Bruder Link durch das Abenteuer.
Ich saß daneben, einen Stapel Papiere in den Händen – eine aus dem Internet gezogene Komplettlösung – und wartete auf meinen Einsatz. Mein Bruder versuchte natürlich zunächst stets selbst sich in der Welt zurecht zu finden, Rätsel zu lösen und sich einen Weg durch die Dungeons zu bahnen. Ich musste mich oftmals zusammenreißen, um in der Komplettlösung nicht schon einige Absätze weiter zu lesen, denn ich wollte mich selbst nicht spoilern.
Gleichzeitig wollte ich aber auch immer möglichst auf dem aktuellen Stand sein, damit ich im Fall der Fälle schnelle Hilfe leisten konnte, ohne ewig herumzublättern und die richtige Stelle suchen zu müssen.
Ein Spagat, der mir nicht immer gelang, allein schon deshalb, weil ich furchtbar neugierig auf das war, was noch folgte. Und mein Bruder für meinen Geschmack manchmal zu lange brauchte, um endlich zur Lösung zu finden. Sicherlich habe ich ihn auch öfter als einmal gefragt, ob ich ihm nicht einfach sagen soll, wo er jetzt langgehen muss. Ganz bestimmt habe ich öfter als einmal eine Absage auf meine ungeduldige Anfrage kassiert.
Leider haben wir „Ocarina of Time“ niemals gemeinsam zu Ende gespielt, aber wer hat als Kind auch schon irgendwas bis zum Ende gespielt? Also… wir jedenfalls nicht.
Meine neuen “Aufgaben”
Mit der Zeit folgten andere Videospiele und veränderte sich teilweise meine Rolle und wuchs meine Verantwortung. Wenn mein Bruder „Deus Ex“, „Enter the Matrix“ oder andere Spiele mit Shooter-Elementen spielte, bediente ich oftmals einen Teil der Steuerung.
Mein Bruder navigierte mit Maus und den Pfeiltasten, ich wechselte die Waffen, öffnete Inventare und so weiter. Anfangs noch auf Zuruf meines Bruders; später waren wir ein so eingespieltes Team, dass ich oftmals bereits eine Taste (und manchmal gar die richtige!) gedrückt hatte, bevor er überhaupt den Mund geöffnet hatte.
Ich empfand meine Aufgabe durchaus als herausfordernd, musste ich doch das Spielgeschehen im Auge behalten. Mitten im Schusswechsel einfach mal so die nächste Waffe zu zücken, konnte fatale Folgen haben.
Ich warnte ihn vor, wenn die Munition zur Neige ging und er besser Deckung aufsuchen sollte, damit ich die Waffe wechseln konnte. Ich hatte einen Blick auf das Radar oder andere Hilfsmittel dieser Art und wachte darüber, dass sich kein Gegner von hinten anschleichen konnte. Natürlich blieben Missverständnisse und Übereifer meinerseits nicht immer aus, aber alles in allem funktionierte unser Zusammenspiel fast reibungslos. Vor allem machte es unglaublich viel Spaß.
Mein Bruder hat mir den Weg bereitet
Unser gemeinsames Zocken hat sich über die Jahre verloren, was sicher auch daran lag, dass unsere Interessen sich in unterschiedliche Richtungen entwickelten. Mein Bruder entdeckte beispielsweise – sehr zu meinem Leidwesen – seine glühende Leidenschaft für die „Anstoss“-Reihe, während ich mir kaum etwas langweiligeres vorstellen konnte, als eine virtuelle Fußballmannschaft zu managen.
Unsere gemeinsamen Gaming-Sessions werde ich natürlich trotzdem immer in guter Erinnerung behalten. In gewisser Weise fühlt es sich ein wenig so an, als hätte mein Bruder mich auf meine alleinige Reise in die große weite Videospielwelt vorbereitet.
„Ocarina of Time“ habe ich dann übrigens eines Tages doch noch durchgespielt – als mein Bruder beim finalen Kampf gegen Ganon zufällig gerade ins Zimmer spaziert kam und mir dann zusah. So schließt sich der Kreis, schätze ich.
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